Behind the Scenes: „Die Hölle von Vettweiß“ von Christoph Simon
Die Kameradrohne schwebt ruhig am dunklen Abendhimmel und richtet ihren Blick auf das riesige Festzelt, das hier in der rheinischen Provinz zwischen Ortskern, Supermarktparkplatz und landwirtschaftlicher Nutz- fläche steht. In der Gemeinde Vettweiß bei Düren wohnen 9261 Menschen in elf Ortsteilen, das Dorf selbst hat rund 2000 Einwohner, eine ruhige Gegend. Aus dem Zelt dröhnt Musik und der Lärm von 1800 Damen, die sich prächtig amüsieren.
Es ist Karneval in Vettweiß, und der WDR dreht einen Film darüber: „Die Hölle von Vettweiß“. „Die Damensitzung hier ist unter Musikern berüchtigt“, sagt Filmemacher Christoph Simon, „der Name ‚Hölle von Vettweiß‘ wird auf die Band ‚De Räuber‘ zurückgeführt. Die wurden mal von Kollegen gefragt, von welchem Auftritt sie gerade kommen und sagten: ‚Wir kummen us der Höll‘.“ Denn das Festzelt hat keinen Bühneneingang, alle Künstler müssen durch den ganzen Saal. Die Frauen bilden ein Spalier, mit ihren Armen als Dach, und als sei das nicht eng genug, gehen sie zum Teil noch in die Knie. Die Stimmung ist aufgeheizt, die meist männlichen Karnevalsstars dürfen hier buchstäblich keine Berührungsängste haben. So bürgerte sich für die mittlerweile fünf Damensitzungen der KG Vettweiß der inoffizielle Name ein, und man scheint hier stolz darauf zu sein. Die Ordner an der Einfahrt haben ein Hinweisschild aus Leuchtschrift gebastelt: „Zur Hölle.“ Rückblende: Um 15 Uhr hat die Sitzung begonnen, es ist die erste von fünf Damensitzungen. Die Tische sind mit Chips-Tüten, Kölsch-Fässchen, selbstmitgebrachten Salaten und Frikadellchen beladen.
Als erste Band treten die Klüngelköpp auf, ruckzuck stehen die ersten Frauen auf den Bänken. Vor der Bühne wird getanzt. Gesang aus 1000 Kehlen. Die Temperatur im Saal steigt minütlich. Der Holzboden vibriert. Wie hält man eine solche Stimmung bildlich fest? Während die Bands spielen, ist es ziemlich dunkel im Saal. Kameramann Tom Wegner hat ein Problem: „Wenn ich mit einem Headlight an der Kamera arbeite, dann sieht es aus wie Tagesschau. Und man will den Leuten auch nicht ins Gesicht leuchten, während sie feiern.“ So müssen er und sein Kollege Jürgen Behrens mit der Lichtempfindlichkeit ihrer Kameras an die Grenze gehen. Der Gang durchs Spalier ist quasi das Markenzeichen der Sitzung. Eine Erfahrung, die Christoph Simon und Tom Wegner den Fernsehzuschauern gerne vermitteln möchten. „Wir haben zwei kleine Action-Kameras an eine Stange montiert, die sich wie ein Rotor an einem Stativ dreht“, erklärt Wegner, „damit werden wir gleich durchs Spalier bis zur Bühne durch den Saal gehen.“
Christoph Simon kennt sich aus in der Karnevalsszene. Er begleitete für den WDR bereits Kasalla und Cat Ballou, Marie-Luise Nikuta, Marita Köllner, De Räuber und Brings mit der Kamera. Und kam so zum ersten Mal nach Vettweiß. Er war beeindruckt von der Stimmung. Doch was ist das Besondere, das ihn veranlasst, einen 45-minütigen Film über die „Hölle“ zu drehen? Die Tatsache, dass das Zelt beinahe die gesamte Dorfbevölkerung fasst? Dass hier fünf ausverkaufte Damensitzungen, eine Herrensitzung und eine Kindersitzung stattfinden? Oder dass regelmäßig alle Top-Acts des rheinischen Karnevals an einem Ort auftreten, der nichtmal eine S-Bahn-Haltestelle hat? Simon hat etwas anderes überzeugt: Den speziellen Charme der Veranstaltung erklärt er sich vor allem dadurch, dass das ganze Dorf den Wahnsinn in Eigenregie auf die Beine stellt. Auch den Kartenvorverkauf organisiert die KG Vettweiß selbst. Immer kurz nach der letzten Sitzung der Session. „Am Samstag, den 04. Februar 2017 werden um 9.00 Uhr die Mailadresse sowie die Telefonnummer für Kartenvorbestellungen frei geschaltet. Vorher eingehende Anrufe und Mails werden nicht berücksichtigt!“, heißt es auf der Homepage des Vereins. Um 9.30Uhr werden 10.000 Karten verkauft sein. Wie jedes Jahr. „Sie könnten noch zwei Zelte füllen, aber nochmehr Sitzungen können sie nicht stemmen. Dann könnten sie es nicht mehr selbst machen,“ erklärt Simon. Und das wäre dann nicht mehr dasselbe.
Die Helden des Films sind Menschen wie Marcus Maubach, Zweiter Vorsitzender der KGund umtriebiger Organisator, Elektro- meister Klaus von der örtlichen Firma Hans-Erich Brandt, der die Technik aufbaut und während der Sitzungen betreut, Festzeltwirt Heinz Dederichs oder Christoph Peetz, seines Zeichens Metzger und Kapellmeister. Und all jene, die an der Garderobe stehen, als Ordner an der Straße frieren oder – nachdem die Frauen den Saal abgerissen haben – beim Aufräumen helfen und sich dafür zum Teil extra Urlaub nehmen.
Auch bei den Vorbereitungen war der Dokumentarfilmer dabei. Filmte in der Arbeitsbesprechung der Karnevalsgesellschaft inderDorfkneipe. Zeigte denAufbaudes Festzeltes. Ließ sich erzählen, wie in den 50er Jahren ein Karnevalist damit begann, die Stars des Karnevals nach Vettweiß zu holen. Simon: „Damals kam Jupp Schmitz noch gegen Deputat, also Speck und einen Sack Kartoffeln.
Marita Köllner ist hin und weg
Am heutigen Drehtag spielen seine Helden eine Nebenrolle. Während Redakteur ChristianWagner das große Ganze im Auge behält und potenzielle Filmszenen sammelt, wie den Kellner, der sichmit einer Trillerpfeife denWeg frei pfeift, will SimondieKünstler vor die Kamera bekommen. „Timing ist total wichtig heute“, sagt er, „wir versuchen O-Töne zu bekommen. Wir müssen die abpassen, denn die kommen rein, gehen auf die Bühne und müs- sen dann schnell zumnächsten Auftritt.“ Inzwischen ist es später Nachmittag. Marita Köllner alias „Et fussig Julche“ hatte er schon vor dem Mikrofon, die Klüngelköpp und „De Räuber“ ebenfalls. Diemeisten kennt Simon persönlich, sie schätzen ihn, was ihmdie Arbeit hier erleichtert. „Dat is ’n janz lieber Kollege“, sagt Marita Köllner, die ein erklärter Fan dieser Damensitzung ist: „Die Mädchen sind so toll. Siehst du, mir kommen schon die Tränchen, ich bin hier immer hin und weg!“
Es ist Abend geworden in Vettweiß, die Drohne ist längst gelandet. Drinnen spielen Brings. Beim Auftritt der Rockstars des Karnevals ist die Stimmung auf dem Siedepunkt: Jetzt singen alle, tanzen alle, kippen Schnäpse, jubeln enthemmt. Das ist irgendwie schön, aber als Mann bekommt man auch ein bisschen Angst vor der geballten Power der Östrogene. „Von der Stimmung geht hier noch mehr“, sagt Christoph Simon am Ende, „das wird sich die Woche über noch steigern.“ Deshalb fährt er zur letzten Damensitzung nochmal hin. In der Hölle ist immer ein Platz für ihn.
Quelle: print.wdr.de